Kayaköy

Trotz Touristenbus, Dolmus und verbeultem Renault auf dem kleinen Otopark ist es still in der Mittagshitze. Die wenigen Händler am Stadteingang haben ihre Stimme gesenkt, das provisorische Café menschenleer und das Schild vor dem WC erbittet eine türkische Lira.

Die Menschen verlieren sich an diesem Ort. Manchmal taucht ein Gesicht hinter dem toten Fensterloch auf, dann rutschen Sandalen über die grobe Kopfsteinsteinstraße. Haus ohne Dach reiht sich an Haus ohne Dach, Mauer an Mauer, Steine an Steine. Nur rechte Winkel. Manchmal erholt sich das Auge an einem zerbrochenen Rundbogen. Alles Holz ist verschwunden: die Stürze geplündert, Fensterlöcher leer. Wie gigantische Zähne stehen die Ruinen in der lykischen Hitze. Kaum Geräusch – nur manchmal ein Ziegenton oder später der ferne Muezzin.

Nach dem gescheiterten Eroberungskrieg der Griechen wurde 1923 im Vertrag von Lausanne  vereinbart, dass innerhalb weniger Tage 2 Millionen Menschen ihre Heimat zu verlassen hätten: Ethnisch-griechische orthodoxe Türken nach Griechenland, ethnisch-türkische muslimische Griechen in die Türkei. Führende europäische Staatsmänner wie Winston Churchill unterstützten solche europaweiten Säuberungen, die der Friedenssicherung dienen sollten. Die Politik der Ethnien erzeugte  Opfer ohne Zahl.

Kayaköy, griechisch Levissi, war eine Stadt in Lykien. Bis zu 20.000 Menschen haben hier ihre Heimat verloren. Mit ihnen verlor der Landstrich seine begabten Handwerker. Die später aus Griechenland einflutenden Zwangsimmigranten waren Bauern, die mit Stadtkultur nichts anzufangen wussten und stattdessen in der Ebene unterhalb der verlassenen Häuser Ackerbau betreiben wollten. Im Laufe der Jahre holten sie sich dafür alles aus der verlassenen Stadt. So blieb eine Geisterstadt. Von den 3.200 Häusern stehen noch heute 500 Ruinen.

Wer wohnte hier? Wo arbeiteten die Frauen? Wann saßen die Männer in den Tavernen? Wie spielten die Kinder?  Klangen Gebete aus Kirchen und Kapellen? Waren die Zisternen und Brunnen immer gut gefüllt? Warum findet sich nur eine Treppe in der Stadt? Was bedeutet die intensive blaue Farbe auf den Mauerresten? Und die Gräber, die die Vertriebenen zurücklassen mussten?

Ich schließe die Augen und höre Stimmen. Ich öffne sie und nehme nur Schweigen wahr. Ich ahne den Weihrauch schwenkenden Popen und starre auf das gerissene Tonnengewölbe der Kirche. Viehherden ziehen die Stadt hinauf. Ich blinzele und sehe eine einzelne Ziege im Schatten der zerfallenen Kapelle. Gehe ich aus der Stadt, bin ich Voyeur. Bleibe ich in den Mauern, verwandeln sie mich. Ich forsche nach Menschen, die hier nicht sterben durften. Je länger ich bleibe, desto intimer werden die entblößten Räume, desto scheuer werde ich.

Literaturempfehlung: Louis de Berniéres – Traum aus Stein und Federn (Roman), Frankfurt/M. 2006 (Fischer Tb). Berniéres lässt in seinem opulenten Roman Anatolien vor 100 Jahren wieder erstehen und schildert das friedliche Zusammenleben von Griechen und Türken, bis die Katastrophe 1923 über sie hereinbricht. Folie des Romans ist Kayaköy.