Gescheitert – aber nicht falsch.

Jahrelang wurden geduldig Verflechtungen entwickelt, wirtschaftliche Abhängigkeiten hergestellt, durch Handel Annäherung und durch Annäherung Wandel versucht. Das alles sollen Fehler gewesen sein, für die man sich jetzt zu entschuldigen hat.

Erinnert sich noch jemand an Willy Brandt und Egon Bahr: „Wandel durch Annäherung“?  Oder: Wandel durch Handel. Am Ende stand das Ende der Sowjetunion und seiner Vasallen. Wandel ohne Krieg und ohne Gewehre, friedlich, geschaffen durch Vertrauen – in die Stärke der Gewaltlosigkeiten (Leipzig), in die Wirksamkeit von Diplomatie (Kohl), in den Widerstand gegen Raketen (Friedensbewegung).

Die Befriedung der Welt durch Geschäfte, durch das Herstellen gegenseitiger Abhängigkeiten: Das ist plötzlich falsche Politik geworden? Falsch, obwohl es nicht nur dem eigenen Vorteil diente, sondern der Verhinderung von militärischen Konfrontationen. Gescheitert, ja. Aber deswegen nicht falsch. Sonst hätte man sich schon vor Jahren die Köpfe einschlagen können – weitaus gründlicher und verbreiteter als jetzt in der Ukraine.

Kriege haben Geschichte und entstehen nicht durch einen einzelnen Autokraten. Sind sie aber begonnen worden, sind sie für die Angegriffenen alternativlos. (Immer sind es die alten Männer, die solche Sätze schreiben und andere in den Krieg schicken.) Dann wandelt sich alles, zuerst die Wahrheit.

Es wandelt sich die politische Kultur:  Fast jeder meint, dass Frieden nur durch Krieg geschaffen werden könne. Waffen werden gesammelt, Witze gemacht über „Frieden schaffen ohne Waffen“, Vertrauen als politische Kategorie wird als bloße Dummheit oder Russen-Liebe desavouiert, ganz so, als hätte man jahrelang mit Putin im Bett gevögelt. Die, die es schon immer wussten, gerieren sich als Besserwisser. Der „Wer-Visionen-hat-soll- zum-Arzt-gehen-Helmut-Kanzler-Schmidt“ wird posthum zum Friedensheroen. Wir werden ein Jahrzehnt der Aufrüstung erleben. Die Freunde von Rheinmetall und anderen Rüstungskonzernen spekulieren vergnügt, ihre Aktien werden hoch gehandelt, Waffen in aller Welt gekauft und aller Welt verkauft. 100 Milliarden werden locker gemacht – mal so eben. Die amerikanischen Waffenfabriken boomen ein weiteres Mal.

Die Ukraine, das neue „Heldenvolk“ will plötzlich für hohe Ethik und europäische Werte stehen, treibt mit dieser Rhetorik die Bundesregierung vor sich her. Ein Botschafter, der als Dressman eine gute Figur im Fernsehen macht, schwingt sich auf zum Zensor. Er düpiert mit  seinem Präsidenten das ganze Land, das sich gerade im Freundschaftsrausch befindet. Dabei hat die Politik der Ukraine jahrelang ihren Beitrag zur Eskalation geliefert, unter den Augen der westlichen Politiker. Dies geschah wissend, welcher Gefahr das große Land ausgesetzt war. Kluges Handeln und Wandeln wurde durch Rechthaberei und Kalkül verdrängt. Die Geschichte des angegriffenen Landes ist nicht makellos. Das Land ist keine lupenreine Demokratie. Es ist mit  demokratischen Makeln, oligarchischen Verflechtungen, Nationalismus (1) und präsidialem Autoritarismus behaftet.

Vor lauter Kriegsgeheul und Heldenstilisierungen sollten man nicht vergessen: Es wird eine Zeit nach dem Krieg geben und wir sollten uns dann nicht die Augen reiben müssen.
Nur acht Jahre nach der „Revolution der Würde“, dem „Euro­Maidan“ kritisieren ukrainische Oppositionelle und politische Beobachter Selenskyj. Demnach wolle der Präsident seine bei vielen Ukrainerinnen und Ukrainern ungebrochene Popularität und seine gefestigte direkte Kommunikation mit dem Wahlvolk nutzen, um den Pluralismus im Land einzuschränken und eine präsidentielle Machtvertikale zu etablieren. (2)

Kritische Beobachter sprechen von einem „populistischen Autoritarismus“, verknüpft mit unklarer Gewaltenteilung und der Bereitschaft, im Schatten des Krieges Oppositionsparteien zu behindern. So wurde mit Beginn des Krieges die größte ukrainische Oppositionspartei verboten und jetzt wurde einer ihrer Vorsitzenden, der Putin-Freund und Oligarch Medtwedtschuk, verhaftet: „Hochverrat“.

Wir, die Friedensbewegten, Ostermarschierer, die politischen Tauben, Brückenbauer, Vertrauensselige, Suchende und Versuchende: Wir haben verloren.

Wir haben für viele Jahre verloren und wir sollten jetzt nicht so tun, als wären unsere Ideen momentan etwas wert. Wir werden alternativlos ein Jahrzehnt der Hochrüstung erleben. Der Winter der Friedensbewegung hat begonnen.

Die politischen Falken dagegen werden aufblühend ihre geopolitischen Ansichten verknüpfen mit den Profiteuren. Seien wir also demütig: Tun wir nicht so, als hätten wir aktuelle Antworten. Es ist zu spät für Alternativen, für Politik. Die Waffen sprechen. Die Menschen leiden und sterben, egal, ob Freund, Feind, Verteidiger oder Soldat, ob Russe oder Ukrainer.

Unsere politische Kultur verändert sich: Statt politischer Meinungen werden Glaubensbekenntnisse (3) erwartet. Wer sich nicht von Putin distanziert, von dem distanziert man sich mit Getöse: Engagements werden gekündigt, russische Musik boykottiert, Ehrungen entzogen, Medien verboten, Ausstellungen abgesagt. Wie tief wollen wir sinken – bis hinab zu Putin?

 

1 Gebrochen“ auch deshalb, weil sich der ukrainische Nationalismus zeitweise mit dem Nationalsozialismus verband und gegen die Sowjetunion kämpfte. Auf diesem Hintergrund ist die Rivalität und sind viele Hassäußerungen von Putin zu verstehen. Zur Bedeutung des ukrainischen Nationalismus schreibt Kateryna Botanova.

Lesenswert: André Härtel.

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